20111230

marika_bergmann_schneepferd_v_101218_36_v_36

 

Stumm?
Stumm vielleicht für die Wärter, die zu viert, fünft die Tür öffnen, die selbst schreien und sich gegenseitig Kommandos zubrüllen, die über die verbliebenen Reste des ehem. Rollstuhls trampeln, aber eigentlich schreit der metamorphierte Mann an der Zimmerdecke (ehem. im Rollstuhl) viel lauter als sie, schreit nach einem neuen, schönen Stuhl mit Motor, schreit nach einer Maschine, zum Beispiel nach einem Permobil Kombistolar C350-TS (6km/h), jedenfalls nach einem modernen elektrischen. Wenigstens aber nach der Reparatur des alten! Von wegen ich kann fliegen! Die schwarze, neugeborene Haut ist in Wahrheit Käseschmiere der übelsten Art, wie das Zeug, das man kaum von den Fingern kriegt, wenn man in ein verstopftes Abflussrohr gegriffen hat. Und die Brüste sind bloß adipöse Bierbauchtitten! Und selbst die Flügel nicht echt: Ein dämliches Bettlaken, wie es Kinder beim Gespensterspiel benutzen. Als also der sog. Totdienst erscheint, schreit und kreischt der ebenfalls nur vermeintlich Metamorphierte unter der Zimmerdecke, bis er mit den Händen hilflos flatternd wie ein gestutztes Masthuhn vom Hängesack fällt, auf den Tisch plumpst, über die Kante rollt und zu Boden klatscht. Dort nicht einmal nachfedert, sondern liegenbleibt wie ein aufgeschlagener Hefeteig, ein Teig mit einem Loch. Das Loch ist aber der Mund, ein schreiender Mund, der sich dem Leser ins Ohr schreit. Und diese wunderschönen großen Mangaaugen blind vor Angst.

 

Der TotNotdienst zerrt ihn irgendwie auf sein rollbares Bett und rollt ihn in den Delinquententunnel, in besagten Schacht, der nach NORDEN führt, und an meiner Seite die Putzfrau (die in Wahrheit Meta ist, oder die Priesterin).

Man befestigt am M.i.R.: Infusionsflaschen und Schläuche, die per Nadel in meinen Unterarm (links) führen. Dem M.i.R. ist schlecht. Aber das Rumpeln und dieser Krach, wenn ein Metallbett durch einen alten Kanalschacht geschoben wird, machen es unmöglich, einzuschlafen. Außerdem riecht es hier nach Scheiße.

»Jetzt den rechten Abzweig!«
Wer sagt das? Außerdem muss es »linker Abzweig« heißen.

Auch der Kanal rechts ist gut beleuchtet. Ziemlich gut, viel zu gleißend, reinweißeiskalt. Und die eigene Kraftlosigkeit ist fürchterlich. Woher kenne ich das?: Hebe ich den Kopf, kommt vorne Kotze raus.

»Schschsch ...«, macht das Leben.
Das Leben ist auch diesmal nur die passende Allegorie. In Wirklichkeit läuft die Nymphalidin neben mir, noch immer nicht metamorphiert, dafür vergleichsweise mitfühlend, aber auch BELEIDIGT, weil ich ihr mit meiner Verpuppung die Show stehlen wollte. Trotzdem führt sie auch diesmal den rollenden Edelstahlständer mit den hängenden Flaschen. Gelbes Flüssiges, klares Flüssiges. Whiskey und Wodka. Intravenös.

Ich muss lachen, obwohl mein kahler Kopf in Blei gegossen ist. Und schmecke sofort meinen eigenen Geschmack. Ein Geschmack wie Blumenkohl. Woher kenne ich das? Aufwachen und der Geschmack von Blumenkohl im Mund? DU erinnerst Dich! Der Leser ist ALLWISSEND.

Außer der Schmetterlingsfrau weitere Personen:
- der singende Mexikanermachoami, in dunkelblauschwarzer Uniform und lärmenden Stiefeln, der sich für Freddie Mercury hält und uns mit einem Mikrofon den Weg BAHNT,
- die Richterin,
- die Priesterin,
- die (geliebte) Schwester,
- die Putzfrau (die aber auch diesmal nur aus dem Off).
- der Gnom, den ich nicht sehe (hat sich eh längst verabschiedet) und
- man vermisst nur den Friedrich, z.B. als Beule über mir. Es gibt ihn ersatzweise aus Draht, irgendwo aufgelesen und zu mir ins Bett gelegt. Aber der Friedrich ist tot. Der zählt die Stunden nicht (mehr).

»Dort ...«, Lautsprecherstimme, Putzfraus Lagerlautsprecherstimme, »dort weiter geradeaus ...«, und Richterin, Schwester (vorne) und Gnom (hinten) schieben das Bett. Der Wärter singt nicht wirklich in sein Mikro, er PRÜGELT sich stattdessen damit frei, dass es eine Lust ist. Z.B. auf den dicken Kanalarbeiter in blauem Ganzkörperanzug, mit Helm, Geschirr und Karabinerhaken (es ist der von letztens), der wuscht an mir vorbei, drückt sich mit Angstaugen und vorgehaltener Hand an die Betonwand, und seine Nase hat einen vernarbten Taschenlampenabdruck. Der Brutalo ist und bleibt - selbst wenn er singt - ein Schwein, denke ich.

Übrigens auch hier: viel Volk. Ich hebe erneut den Kopf, etwas besser, ein, zwei Sekunden ohne Ohnmachtsanfall und sehe die Schlafenden auf dem Boden. Das ist gar kein Kanal, das ist ein ganz normaler Gang durch eine ganz normale Klinik, und das sind WARTENDE an der Tot... iwo! Notaufnahme. Und wir rollen privilegiert vorbei, stehen in Konkurrenz zu den ärmlich gekleideten Menschen mit Kinderaugen, zu alten Männern und in Lumpen gewickelten Müttern. Wir wecken sie, die hier schon seit Anbeginn warten und sich von dem ernähren, was der Wärter ihnen bringt. Die Leute lachen in einer Sprache, die ich nicht verstehe, sie haben weder Angst noch Respekt, aber der Wärter macht uns Platz. Er schlägt mit dem Mikro nur so um sich. Stopft ihnen damit das Maul, bis kein Ton mehr rauskommt. Außerdem Treten und Anschnauzen. Mein Kopf sinkt wieder ins Kissen. Immerhin ICH habe ein Kissen, denkt der Mann, MIR geht es noch immer gut.

Ich höre ein Baby schreien wie eine Nachtkatze. Die uralte Frau von letztens hält mir denselben Säugling hin von letztens. Es ist, wie es war: Schläuche reißen mir aus dem Körper und mir wird wieder schlecht und der Säugling ist noch toter, verwester, skelettierter als beim letzten Mal. Es soll ja so was geben, denke ich wieder und kann nicht anders, es soll's ja geben, dass die Mutter den toten Säugling nicht hergibt, aber das liest man nur von den Makaken. Die Alte aber ist die Sensefrau, ein Lumpenbausch, aus dem knorrige Arme den Säugling halten, der, mit hängendem, schlackerndem Kopf auf meinem Bauch sitzt und nicht einmal mehr die Windel trägt. Der Säugling ist schwarz wie ich; Verwesungsschmiere und zugleich wie frisch geboren, nicht mal schleimig, eher käsig, der ganze kleine Kerl ein käsiger Knochenklumpen. Herrenlose Gliedmaßen und dunkle Augen, und: Alle Hoffnung verloren!, na endlich!

Ich kann nicht sprechen, mein Gesicht ist selbst ein nasser Klumpen. Meine Augen leer. Sie wollen keine Bilder mehr aufnehmen, aber fühlen kann ich noch. Z.B. wie das Bett zum Stehen kommt. Und SIE sich mir nähert und sich zu mir stellt. Der Mann (ich) hört ihr atemloses Seufzen, vielleicht Schluchzen, oder Tränen. Langsam und vorsichtig Hände über seinem offenen Arm, aus dem die abgerissenen Kanülen kragen. Zeit später senken sich ihre Finger, bis ich sie fühlen kann. Die Wärme eines anderen Körpers fühlen, sodass sich die eigenen Härchen aufrichten, um die fremden Hände zu empfangen, die sorgenden, um sich sanft niederdrücken zu lassen, bis Haut auf Haut liegt.

Die Putzfrau weint heimlich, niemand darf es wissen. Ein letzter Druck auf meinen Arm, ein letztes Zeichen meiner Finger, und dann, in meinem dunklen Kopf, nur das dumpfe Rumpeln des schwer rollenden Bettes und der Klang sich öffnender und schließender Eisentore. Ein komplizierter Mechanismus, den der Mann im Rollstuhl noch immer nicht versteht. Wo ist der (Rollstuhl) eigentlich, habe ich den nicht zu mir selbst verbaut? Kein Rollstuhl, da sind nur die Hände der Schwester, der Richterin, der Putzfrau, des Lesers, die mich, weil alle Männer gegangen sind, allein weiterschieben. Und jetzt, ich öffne die Augen