episoden aus der neuen welt; ein roman -episode 9-

bild _episode_9

 

wo bleibst du eik, schiefhängendes gesicht. solltest schon längst hier sein. da oben haben sie wieder einen nachtengel vergessen. du hast es verpasst. die leuchtenden engel. du hättest sie sehen sollen. vollkommen ganz, vollkommen leicht. ihre gesichter zufrieden… ja, ja, ich weiß, das alles ist nicht echt, künstlich würdest du wahrscheinlich sagen. aufgeblasene gecken. ein altertümlicher zirkus das ganze. womit du recht hast. aber ist es nicht der einzige zirkus den wir noch haben? außer natürlich der, in dem wir hier unten mehr oder weniger freiwillig mitspielen. darin sind wir die clowns. unbestritten. ich schaue also lieber diesen dickbäuchigen putten zu, wie sie immer im gleichen tempo, im gleichen abstand, immer mit der selben miene hinterander herzuckeln. manchmal, wenn du genau hinschaust, kannst du sogar ein neues gesicht entdecken.

 

sieht einfach etwas sauberer aus. noch keine graufärbung der haut. flächendeckend zartrosa. so wies mir am besten gefällt. naja, sauber und rosa sind sie eben nur für ein paar wochen, solange, bis die ersten schmutzschichten in ihren hautfalten sitzen. dann unterscheiden sie sich kaum noch von den anderen. ich finde sie sollten sie regelmäßiger waschen und die inneren lichtquellen verstärken. sie leuchten so trüb. es wird immer anstrengender details zu erkennen. naja, schön wars trotzdem letzte nacht. ich habs genossen. dafür heute morgen ein depressionsschub. du hast keine ahnung. wochenlang nichts. ...und jetzt. es ist ... ein absterben bei lebendigem leib. du schrumpfst in sekunden zu… sags schon. zu... …zur nichtexistenz. du willst es abschütteln wie etwas, dass nur auf dir liegt. eine fremde decke die man aus versehen über dich gestülpt hat. das täuscht. es gibt nichts abzuschütteln. alles ist bereits infiziert. es hängt in deinem fleisch, in deinen knochen. dein gehirn ist zum selbzerstörungsautomaten mutiert. manchmal könnte ich einfach nur losheulen. mich hier mitten auf die strasse stellen und heulen, heulen bis keine träne mehr kommt. jammerlappen. schlappschwanz und sonst was, das käme. lass dich nicht so hängen. nimm deine fassade wieder auf. wir haben auch zu lange dran gearbeitet. du steckst uns noch an. deine tränen erinnern uns daran, dass wir kein innenleben mehr haben. hör auf. sofort. dieses theater. wir könnens nicht ertragen. und ich, gehorsam wie ich bin, gehe wieder zu übertriebener freundlichkeit über. heuchler. oder sie? wir alle...? wenn ich nur den mut hätte. einfach losheulen. die sind mir doch sowieso egal. interessieren mich nicht die bohne. aber ich pule nur wieder an den fingernägeln herum. heimlich. fürchte ich mich vor ihnen? fürchte ich mich so sehr...? nun ja, ich bin ein mann. das ist durchaus ein problem. da kann ich nicht einfach dastehen und losheulen, herumjammern, jedem erzählen wie schlecht es mir wieder geht. absolut ausgeschlossen. das kann sich kein mann leisten. da habe ich auch weiterhin wenig hoffnung. da ist man gleich als tunte verschrien. alles weibliche immer noch ein makel. ach, ja ... mal so richtig losflennen. das wärs. aber an den fingernägeln bleib ich dran. das gönn ich mir. ein bisschen abseits, dass muss man sich leisten, auch als mann.

mark:
mensch, eik … da bist du ja. wo warst du so lange. ich warte hier schon seit ner ewigkeit. du wolltest doch nur...

eik:
war noch beim fressautomaten. fast alles leergefressen. nur noch ein paar vergammelte brötchen. da habe ich es vorgezogen zu warten.

mark:
zu warten..? die ganze nacht?

eik:
ja, die ganze nacht. aber wie ich sehe, werden hier großzügig brotkrumen verteilt. hätte gleich hierher kommen sollen. man schmeißt ja hier mit dem zeug nur so um sich.

mark:
ja, wo denn? ich seh nichts.

eik:
sperr die augen auf. da hinten; am märchenbrunnen.

mark:
tatsächlich. ist mir glatt entgangen.

eik:
hast wohl wieder den halben tag verpennt, was?

mark:
blödsinn. musste meinen stumpf pflegen. da habe ich keine augen für anderes. muss immer aufpassen, dass die narben nicht platzen. schön eincremen. muss geschmeidig halten das verkürzte ding.

eik:
da is dir ja vor lauter cremen einiges entgangen. sieh dir den nur an, diesen fleischsack auf rädern. braucht nurs maul aufzusperren, da schmeißt man dem schon alles in den rachen.

mark:
der ist außer konkurrenz. keine chance. wenn der hier aufläuft sind wir alle komplett abgeschrieben. da regt sich plötzlich mitleid bei den sonst so gnadenlosen. obwohls reine berechnung ist, bei dem. muss nich ganz dicht sein, sich so abholzen zu lassen. kann er wohl kaum selbst gemacht haben.

eik:
bestimmt nich. da haben wir ja unsere spezialisten. gab bestimmt ne ordentliche rechnung.

mark:
sattes ding, sicher. aber zu beneiden ist der auch nich gerade. hat gleich seinen pfleger mitgebracht. der lässt sich garantiert auch ordentlich auszahlen. dass der nich gleich auch noch das maul aufsperrt...

eik:
hinterher. da kannst du einen drauf lassen. ist also nur halber gewinn.

mark:
weißt du, der erinnert mich verdammt an unsere ausgestopften. is nur viel ärmer dran die sau.

eik:
hä, hä....

mark:
hat nur keine arme und beine dran. is vielleicht auch ausgestopft.

eik:
ha, ha... wir könnten ihn anstechen. mal sehn was raus kommt. ein haufen sägespäne oder...

mark:
das lassen wir dann mal lieber. haben sonst die gesamte privilegiertenschar gegen uns. da kriegen wir hier kein bein mehr auf den boden.

eik:
dann lass uns mal da hinten umschauen. ein paar privilegierte werden wohl noch frei sein, oder?

 

 

mark:
hallo sie da, junge frau... hallo, bleiben sie doch mal einen moment stehen. rennen sie doch nich so. mensch, da kommt man ja ganz außer puste. hallo, nur drei minuten. nur drei minuten, bitte...

p2:
ja, was wollen sie denn? ich habe keine zeit, also lassen sie...

mark:
so ganz ohne alles unterwegs. kein affe, kein bär, nicht mal ein vogel. da bin ich ja...

p2:
geht sie das auch schon was ... ahh ... schon wieder diese stiche, mein herz, mein kopf... ich halte das nicht mehr aus. mir ist so...

eik:
setzen sie sich doch madam, sie sehen ganz blass aus. ...gleich hier hin am besten ...ja, so und atmen sie einmal tief durch. sie dürfen nicht so rennen.

p2:
diese stiche, immer wieder. ich muss mich schonen.

mark:
bleiben sie einen moment sitzen. ich werde sie von ihrem mantel befreien. sie werden sich gleich... oh, was ist das? ihre haut die ist...

p2:
die ist schrumplig. das sehen sie doch. und nehmen sie ihre hand da weg. es brennt.

mark:
entschuldigung, das konnte ich nicht wissen.

p2:
was wissen sie denn schon.

mark:
nichts. gar nichts, madam. bleiben sie locker. ich hole ihnen gleich ein glas wasser.

eik:
madam, … wenn ich mal fragen darf: sie gehören doch nicht etwa... sie gehören doch nicht etwa zum ausgewählten probandenstab des erweiterten genmanipulationssystems, oder?

p2:
ja, sicher. ich gehöre dazu. schon lange.

eik:
ich wusste es. mark: das klingt ja ungeheuer interessant. wirklich, es ist kaum zu fassen. sie sind eine der auserwählten. bitte, erzählen sie uns doch davon.

p2:
da kann ich nur sagen: ein wirklich großartiges projekt ist geglückt. trotz kleinerer und größerer strapazen. ein glück für uns alle, ein riesiger fort … schritt, ah... ich bin nur ein wenig ... einen moment ... mein herz … ahh... unregelmäßiger rhythmus manchmal. ...aber ... geht schon. geht schon wieder. manchmal eben, da will es nicht wie es soll. so ist das eben.

eik:
machen sie sich lang. das hilft.

p2:
danke, aber es geht schon. ich fühl mich schon etwas besser. also, wo war ich stehen geblieben?

eik:
das projekt ist geglückt.

p2:
ja, das projekt. die jahrhundertlange forschungsarbeit am biomaterial mensch, die vollständige reinigung des zellmaterials und die damit verbundene erhöhte lebensdauer jeder einzelnen zelle konnte um ein vielfaches ihrer durchschnittlichen lebensdauer verlängert werden. infolgedessen haben sich jedoch die bedingungen in der röhre verschärft. mark: tja, sie waren wenigstens schon mal drin. im gegensatz zu unsereins.

p2:
ja, das war ich. ich war drin. ...es ist unglaublich heiß. es ist einfach zu heiß und dann, der körper schrumpft durch den enormen flüssigkeitsverlust. du schreist nach wasser, aber sie geben dir nichts … nichts, nicht einen schluck. die haut fällt in falten, schrumplig hängt sie wie lappen herunter.

eik:
das habe ich irgendwo schon mal gehört.

p2:
was meinen sie. eik: äh, nichts. schon gut.

p2:
ja, also … ja … und du denkst: ich bin hier um mich verjüngen zu lassen. und sie schreien in die röhre: das ist nur die äußere schale. unvermeidbar und irreversibel. nur ein kleiner preis für die große innere erneuerung, den du zahlen musst. halts aus. langes leben kommt von innen. und du hälts aus. du hälts aus, bis die harte strahlung kommt. die strahlung die deinen körper zerreißt, deine organe zersprengt, bis dir schwarz vor augen wird. so muss der tod aussehen. eine völlige erschöpfung. und du schreist: hört auf. ich kann nicht mehr. und sie rufen: bleiben sie entspannt und heben sie, wenn möglich die arme. die umfassende grundreinigung ihres gesamten zellmaterials beginnt. und du hälts still, hältst die arme hoch, wenn du noch irgendwie kannst. und wieder wird dir heiß, unglaublich heiß. nur diesmal eindeutig von innen und du krümmst dich vor schmerz und vor innerer hitze, die nicht nachlässt. das alles dauert eine ewigkeit. und hinterher: man fühlt sich nicht besser. aber sie schütteln dir die hände, gratulieren dir. das, werte probandin, war eine erfolgreiche wiedergeburt.

eik:
eine erfolgreiche wiedergeburt!? das klingt alles eher nach einer scheußlichen tortur.

p2:
wenn interessierts schon, wenn das ergebnis stimmt.

mark:
und das ergebnis stimmt? klang gerade nicht überzeugend. wissen sie, ich spare nämlich schon lange.

p2:
da bleibt nicht mehr als zu hoffen. sie sagen ca. 100 jahre auf das durchschnittlich zu erwartende alter. und fügen noch hinzu, dass es von deiner körperlichen kondition abhängt, ob es plus 100 oder vielleicht doch nur plus 60 werden. sie haben ihr möglichstes getan. der rest liegt an dir. und natürlich empfehlen sie zusatzmedikamente.

mark:
was noch mehr von dem zeug. ich falle in dauerdepressionen.

p2:
lasst es.

eik:
wie … es lassen?

p2.
hört einfach auf zu sparen. für euren stand ist die röhre unerschwinglich. die preise, das habe ich jedenfalls gehört, sind wieder gestiegen. ja, die preise... die preise steigen doch immer. vergesst es. mit jeder weiterentwicklung wirds unerschwinglicher für euch.

mark:
wozu lebe ich denn überhaupt noch, wenn die scheiße immer teurer wird. die hälfte für die tägliche ration. ein viertel fürs essen. ein viertel fürs programm. mehr ist nicht drin. wo soll man bloß die ganzen scheine hernehmen?

p2:
man hat immer eine wahl. ich empfehle: wählt den kollektiven selbstmord. ihr erspart euch euer beschissenes dasein.

eik:
jetzt aber mal halt. beschissenes dasein. wie kommen sie überhaupt darauf. wir mühen uns ab, wie es sich für einen anständigen menschen gehört. und sie nennen das: beschissenes dasein. sie überschreiten jetzt eindeutig ihre kompetenz. es steht ihnen nicht zu, unser leben so...

mark:
reg dich ab, eik. ich finde sie hat recht. da ist irgendwie was wahres dran.

eik:
ach, halt doch die klappe. du mit deiner dauerdepression. man siehts dir schon im gesicht an. du ziehst alles herunter. mehr als schwarzsehen ist bei dir nicht drin. bring dich doch um. hör einfach auf. nimm den nächsten baum und die welt wird wieder heller. und sie, sie alte röhrenspezialistin … ja, sie... sie stopft man am besten gleich wieder zurück in ihre heiß geliebte verjüngungsröhre bis ihnen das hirn rausquillt. ist sowieso nicht schade drum. bei dem was sie hier fürn blödsinn quatschen. da gaffen sie, was. kriegen das maul nicht zu. das hat ihnen noch niemand gesagt, wie!

mark:
eik, das kannst du doch nich ...

eik:
halt den mund. ...und nehmen sie am besten gleich das gesamte privilegierte pack mit und eure dämlichen blüschtiere dazu. ab marsch in die grillstation. bei mindesten 250 grad bleibt von euch faltenwürfen nicht mal ein lausiger knochen übrig. das nenn ich einen kollektiven abgang nach meinem geschmack.

p2:
also das ist doch...das ist... sie, sie...

eik:
ja, was ist denn? haben sie mir irgendwas zu...

mark:
eik, hör sofort auf. hör auf... bist du total durchgedreht? komm jetzt. komm schon... wir gehen.

eik:
au, mein arm. lass sofort los. verpiss dich du...

mark:
komm jetzt. was ist los mit dir, du esel? hast hier alles versaut mit deiner scheißtirade. kannst du so was nicht für dich behalten? mein gott, das war... oder hat man dir ein neues medikament gegeben? ...komm, sag schon was. ein neues medikament?

eik:
äh … nur was kleines. mark: was kleines, aha. nur was kleines. ganz harmlos, was? man, du verträgst es nicht. eik: mir ist schwindlig. ich muss mich setzen.

mark:
was ist es. was haben sie dir gegeben? was aufputschendes?

eik:
irgendwas neues. ich habe nicht weiter nachgefragt.

mark:
garantiert ein aufputschmittel. so wie du drauf bist.

eik:
ich werde älter. schwächer. mein blutdruck ist zu niedrig. da braucht man ab und zu was erfrischendes.

mark:
na, fein, jetzt scheint dein blutdruck ja bei 180 zu sein. da kann man ja froh sein, dass du sie nicht in stücke gehackt hast.

eik:
mir ist schlecht.

mark:
ja, ja, hast du schon gesagt.

eik.:
äh, weißt du ... es kommt schubartig. wie eine riesige welle. es ist als müsste ich aus meinem körper fliehen. ein innerer druck. eine art ungehaltener aktiontrieb, der mich plötzlich überfällt. ich konnte einfach nicht anders. und außerdem … blöde hexe... ich mochte sie einfach nicht.

 

text und bild: ilka berger