Landungsbrücken raus. Übers Älterwerden mit Musik.

Vor ein paar Monaten wurde ich alt. Ganz plötzlich. Als ich anfing, mich wieder für Musik zu interessieren. Ich hörte Kettcar - "Landungsbrücken raus" - im Radio und dachte: "Boahh!" Mehr nicht. Einfach nur: "Boahh!" Ich mein', das Ding ist ja auch boahh! Aber Boahh! war noch nicht das, was mich alt machte, sondern das, was auf Boahh! folgte.

ImageIch hatte mich gerade von meiner Freundin getrennt und jede Menge Zeit herauszufinden, von wem dieses Lied war. Mal ehrlich: Solange man eine Freundin hat, ist Musik nicht ganz so wichtig. Man macht nämlich gerne auch mal andere Dinge. Knutschen und so, ihr wisst schon. Da wird Musik zur Muzak, also jenen Begleitgeräuschen, die einem so durch Fahrstühle, Supermärkte und durchs Leben begleiten. Klar habe ich in den letzten Jahren auch mal ein paar neue CDs gehört, war nicht im rock- und poppeligen Exil und fühlte mich auch nicht ausgestoßen. Aber im Vergleich zu damals - sagen wir mal bis Mitte der 90er - musste ich während der Zweisamkeitsphase nicht immer wissen, was gerade Hype war. Davor, eben bis Mitte der 90er, hatte ich sogar noch Gitarren zerspielt, Lieder geschrieben und gelegentlich mal von so etwas wie einer guten eigenen Band geträumt.

Dann kam eine neue Freundin und irgendwie landete die Gitarre bald in der Ecke. Außerdem war das Studium vorbei und ich musste arbeiten. Ich meine: So richtig. Nicht nur zwei Tage in der Woche jobben, um sich mit diesem Geld den Rest der Zeit lazylike um die Ohren zu hauen. Keine Ahnung, wer mich auf die Idee brachte, aber ich fand's okay, mal richtig zu arbeiten. Ich hatte also Sex mit meiner Freundin, arbeitete, fuhr gelegentlich mal in Urlaub und fing an, Dinge zu tun wie "Sonntags in eine Ausstellung gehen", "Tatort gucken", "Mare abonnieren", "Reiseführer für die Provence kaufen" und "selber kochen" - so richtig, mit Sauce und so. Mir wandert jetzt noch ein Schauder über den Rücken. Ich war ein pseudointellektuelles, blasiertes Arschloch mit der Lizenz zum Kotzreiz auslösen (ich nutze hier natürlich das rhetorische Stilmittel der Überspitzung). Irgendwann begann ich gar, schwülstige Pennälerlyrik und Kurzgeschichten zu schreiben, weil ich mich geistig unterfordert fühlte. Schließlich las ich Günter Grass, was mich immerhin schon mit einigem Unbehagen erfüllte. Es war allerdings noch ein eher unbestimmtes Gefühl, eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte.

Dann kam die Trennung, dann die Landungsbrücken und dann stand ich bei Saturn - lag leider gerade am Weg - vor den Regalen und suchte Kettcar. Ich suchte und suchte und suchte - und ich fand? Eine neue Welt, etwas, das ich bis dahin nicht beachtet, das ich ignoriert oder verdrängt hatte: Unaussprechliche Namen und seltsam anmutende Ikonen, CDs, DVDs, DJs und VJs, Tondichter und Musiker, Bands und Beats, Hip und Hop, Töne, Titten und Temperamente, Indie, Electronic, Dance und Dumpf, Rock und Pop und World und Wumpf, Post-Rock und Pre-Fuck und Fans und die totale Verwirrung. Ich fand mich einfach nicht zurecht. Ich meine: Wo war ich hier gelandet? War das ein Paralleluniversum? Hatte ich mich so verändert oder die Welt?

Klar war ich vorher auch schon mal bei Saturn gewesen, auch bei Last Chance oder im Amsterdam Record Shop in Dortmund. Manchmal bestellte ich auch online. Das hatte ein paar Jahre gut funktioniert: Platte irgendwo gehört, rein in den Laden oder ins Internet, suchen, kaufen, raus und wieder zur Freundin. Doch jetzt entsann ich mich plötzlich an damals, an die "gute alte Zeit": Stunden und Tage hatte ich in Plattenläden verbracht, nur um mir Cover anzuschauen und daraus auf die Musik rückzuschließen. Damals gab es sogar noch in meiner Geburtsstadt Castrop-Rauxel - keine Angst, dort bin ich kaum noch - einen Plattenladen. Ich glaube, der hieß "Müller", und die erste Platte, die ich mir gekauft hatte, war von Wum und Wendelin, "Ich wünsch mir eine kleine Miezekatze". Die nächste war immerhin schon von Queen, "Jazz". Ich lernte im Laufe der Jahre sicher nicht alle Bands kennen, aber ich konnte doch zumindest grob zuordnen, was da so zu erwarten war. Ich war nie der große Trend- und Underground-Freak, aber ich wusste doch einigermaßen, wo neue Sounds und Einflüsse herkamen. Und jetzt stand ich da bei Saturn, in einem Heer gleichgeschalteter, halbwüchsiger Aliens - so bis Ende Zwanzig - und hatte keinen Schimmer. Eine bittere, böse, deprimierende Erkenntnis: Diese pickligen Zwerge hatten mir alle etwas voraus, diese uniformierten Arschgeigen - sie alle wussten mehr als ich. Sie hatten zumindest eine Ahnung, sprachen gelegentlich sogar miteinander über Musik oder das, was sie dafür hielten.

In diesem Augenblick wurde ich alt, ganz plötzlich - furchtbar, furchtbar alt. Ich zerfiel. Mein wildes Herz hörte auf zu schlagen, mein Haar ergraute, die Anzahl der befruchtungsfähigen Spermien ging rapide zurück und Tränensäcke in der Größe von Fleischwurstscheiben füllten sich unter meinen Augen. Ich zahlte, flüchtete, setzte mich ins Auto und begann bitterlich zu weinen.

Die nächsten Monate tauchte ich ein in eine Flut von Selbstmitleid. Na ja, ich gebe zu, dass es nicht primär an jenem schicksalhaften Augenblick lag, sondern daran, dass ich gelegentlich auch mal meine Freundin vermisste und dass es mir nicht gelang, den alten Dreiklang Arbeit + Urlaub + Sex so einfach wiederherzustellen. Zum Glück. Denn: Um so bohrender begann jener Augenblick an meinem Ego zu nagen. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ihr müsst wissen: Mir fehlt manchmal die Gelassenheit. Ich neige zur Selbstzerfleischung und habe den krankhaften Drang, anderen etwas beweisen zu wollen. Manche nennen das wohl "Komplex". Das ist mir aber egal, ihr Ärsche. Denn in diesem Fall war das gut so.

Zaghaft begann ich, mit jüngeren Freunden und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen über Musik zu reden. Ich verstand nicht immer, von wem sie redeten oder was sie mir eigentlich sagen wollten, aber ich spürte, dass die Kluft noch nicht zu groß war. Das war aufzuholen, das war einzuholen, das war zu toppen. Ein delirisches Klang- und Tonfieber packte mich. Musikzeitschriften, Internet, Intro, Spex, Fast.Forward, Dorfdisco.de, Playlouder usw. usw. Was ging gerade ab? Was war angesagt? Was war sonst noch boahh!? Ich beamte mich in dieses Paralleluniversum, um die unendlichen Klangweiten, fernen Tonwelten und unbekannten Harmoniezivilisationen zu entdecken. Energie!

Boahh! CDs hören, das Autoradio aufdrehen, Konzerte besuchen, MP3s runterladen, brennen! Brennen für die Musik. Ich hab' sogar meine Gitarren wieder entmufft, meinen Fender Vibrolux Reverb angeworfen und solange gnadenlos geklampft, bis meinem Kater (ein Überbleibsel meiner Ex-Freundin, s. auch o. unter Wum und Wendelin) die Zecken tot aus dem Fell purzelten. Ist das nicht besser als jeder Sex? Zumindest manchmal.

Natürlich gab es auch Rückschläge: Ich gab einer Bekannten aus meinem Sprachkurs das Debütalbum von den "Türen" - "Das Herz war Nihilismus". Tage später sprach ich sie darauf an und klugscheißerte, dass das für mich eine Art Musik sei, die vor 25 Jahren noch der Punk verkörpert hatte. Zugegeben, das war semantisch vielleicht nicht ganz korrekt, total affektiert und auf Effekt programmiert, weil ich gerade unsterblich in diese Bekannte verliebt war (zwecks Herstellung des alten Zustands, s.o.). Aber ich hatte das natürlich nur im übertragenen Sinne gemeint. Sie sah mich nur kopfschüttelnd an und sagte mit einem entwürdigenden Unterton: "Das ist doch kein Punk."
Ich weiß nicht so recht, was mich daran mehr bestürzte: Dass sie mich für dermaßen bescheuert hielt oder dass sie zu blöd war, um mich zu verstehen. Na ja, vielleicht hatte ich mich auch nur unglücklich ausgedrückt.

Gallebitter wurde es aber dann, als mir die gleiche Bekannte einige Tage später - diesmal schon mit einer gehörigen Portion impertinenter Arroganz im Tonfall - vom Immergut-Festival erzählte, das sie "natürlich" im letzten Jahr mit ihrer Anwesenheit beglückt hatte. Ich gestehe: Ich kannte Immergut zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Also zuckte ich. Ihr Blick vernichtete mich. Die ganze Verachtung, zu der Endzwanziger-Frauen in der Lage sind, lag in diesen leider sehr schönen Augen. Als Gnadenschuss erzählte sie mir dann noch, dass sie "eh nur was mit Gitarren höre, das nicht kommerziell ist". Aha. Stumm und geschlagen zog ich von dannen.

Man hatte mir durch die Blume reinen Kommerzgeschmack vorgeworfen. Mir! Versteht ihr die Tragweite dieses Vorwurfs? Mir, der in der Schule immer mit einem "der Sozi kommt" begrüßt worden war, mir, der für amnesty international durch das Verfassen vorwurfsvoller Briefe Inhaftierte aus den Fängen der grausamsten Diktatoren befreit hatte, mir, einem Geburtshelfer der Friedensbewegung, der fast mal von den Grünen shanghait worden war (puh! das war knapp!) und der sogar "Karl der Käfer" für einen winzigen Moment gut fand (das ist natürlich eine rhetorisch geschickt eingebaute Lüge, um das Ganze zu dramatisieren).

Erst Tage später und nach vielen Tränen gelang es mir, mich zu trösten. Damit, dass Punk für sie nur in den musikalischen Geschichtsbüchern stand. Damit, dass sie sich wohl kaum vorstellen kann, welche Gefühle ein Stück wie DAFs "Mussolini" beim ersten Hören auslöst. Oder New Orders "Shellshock" oder "Blue Monday".Von Kraftwerk mal ganz zu schweigen. Damit, dass sie nie fiebernd vor dem Fernseher sitzen wird, um die damals schon alternden "The Who" oder die Undertones im Rockpalast zu sehen. Oder nie schlaflose Nächte hat, weil bald das neue Album von "Ultravox" erscheinen soll.

Tja, und jetzt kommt normalerweise das Kapitel, in dem die Thirtysomethings behaupten, dass dieser ganze neue Tonplunder gar nicht neu ist. Dass sie alles schon vor Jahrzehnten tausend Mal gehört haben. Dass ihnen keiner mehr was vormachen kann, wenn es um Musik geht. Das ist aber nur eine Notlüge. Klar: Niemand setzt sich heute noch hin und sucht nach der möglicherweise letzten unentdeckten Harmonie- oder Tonfolge. Aber - hallo! liebe Gleichaltrige! - die Welt verändert sich und jeder Musiker interpretiert sich und seine Welt immer neu und individuell. Nur von euch hat so mancher damit aufgehört.
Diese altklugen Krakeeler haben nämlich einfach keine Lust mehr, sich mit den neuen Sachen auseinanderzusetzen, weil sie lieber in Ausstellungen gehen (in denen sie auch nix kapieren), kochen, auf ihrem erschlafften Arsch sitzen und Tatort gucken. Das ist aber keine Frage des Alters, sondern eine Frage der Einstellung. Eine Frage der Leidenschaft. Für die Musik. Halten wir Ihnen zugute, dass sie vielleicht eine andere Leidenschaft haben. Aber dann sollen sie auch ihre Klappe nur dazu aufreißen.

Ich bin jetzt 36 und muss - Quatsch! ich will - vieles musikalisch neu lernen. Immerhin sind die fleischwurstigen Tränensäcke wieder verschwunden. Das Haar ist wieder dunkelblond (und übrigens noch voll). Bei den Spermien bin ich auch ganz zuversichtlich. Die Harmonien auf meiner Gitarre sind immer noch die gleichen. Nur was ich darauf spiele und was ich dazu singe (ähem!), klingt anders. Und "Landungsbrücken raus" ist immer noch boahh! und eines der wichtigsten Lieder meines Lebens. Und eures Lebens auch, weil es nur deshalb dieses Magazin hier gibt und ihr das hier nämlich sonst nicht lesen könntet.

P.S.
Übrigens: Einige in unserer Redaktion sind noch ganz jung, unter 30. Sogar meine Bekannte habe ich gefragt, ob sie bei uns mitmachen will. Aber sie muss noch ihre Abscheu überwinden. Meine Ex-Freundin meint übrigens, ich hätte mich sehr verändert und sei nicht mehr so arrogant. Musik ist etwas Schönes.